Buchempfehlungen bekomme ich so oft, dass ich sie meistens wieder vergesse. Die Empfehlung für Der Salzpfad* hat sich jedoch in mein Gedächtnis gebrannt, als ich in der Buchhandlung im schottischen Fort William stand. Auf meiner Wanderung des West Highland Ways erzählte ich anderen Wandernden davon, dass ich für ein Buch recherchiere – und bekam prompt ein Buch empfohlen bei dem es ebenfalls um die emotionale Bewältigung einer Diagnose bei einer Fernwanderung geht. Gelesen habe ich das Buch, das auf einer wahren Geschichte beruht, noch nicht. Heute ist der gleichnamige Film in Deutschland erschienen und prompt wurde Kritik laut. Doch was ist passiert?

Die Heilsamkeit des Fernwanderns und Pilgerns

Auf dem braunen Holztisch liegt ein Buch, das meine Mutter gerade angefangen hat zu lesen, worauf die Position des Lesezeichens hindeutet.
Ich bin dann mal weg von Hape Kerkeling* war mein erster Berührungspunkt mit Pilgerreisen. 600 km auf dem Jakobsweg zu Fuß unterwegs, nachdem der Autor einen Hörsturz erlitten und die Gallenblase entfernt bekommen hat. Damals, als noch gesunder und ziemlich sportfauler Teenager, ein absolutes Horrorbuch. Was will ich davon lesen, wie andere Menschen langweilig durch die Gegend wandern?

Jahre später brachte mich ein Freund zum Fernwandern. Was ich anfangs noch als Gefallen für ihn tat, wurde später zu einer Obsession. Nur bepackt mit Rucksack und Zelt, zu Fuß unterwegs, die einzigen Sorgen das Erreichen des Schlafplatz, genug Wasser eingepackt zu haben, das Finden eines als Toilette geeigneten Busches und eine ausreichende Kalorienanzahl nach den Strapazen des Tages zu sich zu nehmen. Alle Sorgen und Ängste des Alltags vergessen, in den Hintergrund gerückt. Das Fernwandern hatte mich. Und mit ihm zog immer mehr Literatur drumherum bei mir ein, bis ich selbst welche schrieb.

Worum geht es in Der Salzpfad?

Der Salzpfad von Raynor Winn
Der Salzpfad von Raynor Winn*

Die Buchempfehlung von Der Salzpfad blieb mir deshalb so gut in Erinnerung, weil ich ein ähnliches Buch plante. Wandern, um eine Diagnose zu verarbeiten. Aber in Der Salzpfad geht es um noch viel mehr. Alles, was Raynor und Moth noch besitzen, passt in einen Rucksack. Sie haben alles verloren – ihr Zuhause, ihr Vermögen und Moth seine Gesundheit. Mit einem kleinen Zelt machen sie sich auf, den gesamten South West Coast Path, Englands bekanntesten Küstenweg, zu wandern. Mit einem Mal ist ihr Zuhause immer nur dort, wo sie gerade sind. Sie begegnen Vorurteilen und Ablehnung, doch zugleich entdecken sie das Glück ihrer Liebe und lernen, Kraft aus der Natur zu schöpfen. Allen Widrigkeiten zum Trotz öffnet ihr mehrmonatiger Trip ihnen die Tür zu einer neuen Zukunft.

Das Buch wird damit beworben, dass es sich um einen autobiografischen Roman handelt. Zu wissen, dass alles Geschehene wirklich passiert ist, lässt uns stärker mitfühlen und daran glauben, dass auch wir aus einer solchen Situation wieder gestärkt hervorkommen können. Doch genau an diesem Wahrheitsgehalt wird nun gezweifelt.

Welche Vorwürfe stehen gegen die Autorin bezüglich der Echtheit der Geschichte im Raum?

Die britische Zeitung The Observer enthüllte rund um die Filmveröffentlichung diverse Lügen der Autorin. Unter anderem wird die Diagnose ihres Mannes infrage gestellt, aber auch die Hintergründe, warum das Ehepaar ihr Haus verloren hat. Nicht angezweifelt wird jedoch die Wanderung an sich. Sind wesentliche Teile der Geschichte wirklich gelogen?

Die Vorwürfe kurz zusammengefasst:

Laut der Journalistin Chloe Hadjimatheou habe die Autorin über Jahre hinweg als Angestellte Gelder veruntreut. Als sie aufflog, lieh sie sich das Geld um es zurückzuzahlen, damit auf eine Strafanzeige verzichtet wurde. Das geliehene Geld wurde mit einer Hypothek auf das Haus abgesichert mit 18 % verzinst. Als das Geld eingefordert wurde, wurde das Haus zwangsversteigert. Laut The Observer soll es außerdem noch eine weitere Immobilie in Frankreich geben, weshalb das Ehepaar nie obdachlos geworden wäre. Im Buch wird erzählt, dass sie das Haus aufgrund einer fehlgeschlagenen Investition verloren haben und sich in der Opferrolle sehen.

Eine ausführliche Darstellung des Zeitungsberichts auf Deutsch findest du im Literaturcafé.

Das Statement: Was sagt die Autorin Raynor Winn  zu den Vorwürfen?

Die Autorin äußerte sich mit einem Statement auf ihrer Webseite zu den Vorwürfen. Zuerst einmal geht es im Buch um die Geschichte, wie sie mit dem Verlust des Hauses und mit der Diagnose ihres Mannes mithilfe der Wanderung umgegangen sind. Sie bittet darum, dass diese Erlebnisse und Erinnerungen nicht angezweifelt werden sollen.

Als Belege für die Krankheit ihres Mannes veröffentlicht sie Arztbriefe, die privat sind und eigentlich niemanden etwas angehen. Da die Familie von einer Welle des Hasses überrollt wird, sah sie sich jedoch dazu gezwungen, diese Beweise zu liefern. Da CBD/CBS (Corticobasal Syndrome) eine seltene und wenig bekannte Krankheit ist, die sehr unterschiedlich verläuft, ist die Geschichte von Moth nicht unbedingt vergleichbar mit anderen Betroffenen.

Zur Veruntreuung äußerte sie sich damit, dass sie Fehler gemacht habe, die sie zutiefst bereut. Sie wurde wegen der vorgeworfenen Veruntreuung allerdings nie angeklagt oder strafrechtlich verfolgt, da es einen außergerichtlichen Vergleich ohne Schuldanerkenntnis gab. Auch den Verlust des Hauses beschreibt sie anders als in der Zeitung dargestellt und dass die Immobilie in Frankreich eine nicht bewohnbare Ruine ist, in der sie seit 2007 nicht mehr war.

Mithilfe des Vorschusses aus dem Buch, habe sie alle noch offenen Schulden zurückgezahlt und falls ihr etwas entgangen sei, sollen diejenigen sich bitte bei ihr melden. Winn bot dem Observer an, die Vorwürfe zu besprechen und eine Richtigstellung zu veröffentlichen, was die Zeitung ablehnte.

Auch hier gibt es im Literaturcafé nochmal eine ausführliche Darstellung auf Deutsch.

Wie wir als Gesellschaft verurteilen ohne zu hinterfragen

Aussage steht gegen Aussage. Ich selbst kann mir anhand der Berichterstattung in der Zeitung und der Stellungnahme der Autorin kein Urteil bilden, was wirklich die Wahrheit ist und was nicht. Wer übertreibt, wer lügt, wer verschweigt? Zuerst war ich geneigt der Zeitung Glauben zu schenken und mich tierisch über die Lügen und den Betrug der Autorin aufzuregen. Doch dann las ich deren Statement und hatte großes Mitleid mit ihr, dass sie sich diesem Hass und Vorwürfen ausgesetzt sieht, sodass sie persönliche Dokumente über die Krankheit ihres Mannes veröffentlichen musste, damit ihr geglaubt wird.

Dass Menschen Partei ergreifen und ihre Emotionen verbal und körperlich ausleben, ist kein neues Phänomen. Zu gut erinnere ich mich an den Fall zwischen Amber Heard und Johnny Depp. Zuerst sprachen viele ihre Solidarität gegenüber Amber Heard aus, boykottierten Johnny Depp und er verlor Filmrollen, wie die des Grindelwalds aus Fantastische Tierwesen. Nach dem abschließenden Gerichtsurteil schwang die Stimmung um und man solidarisierte sich mit Depp und verurteile Heard für ihre Lügen.

Die Berichterstattung in den Medien heizte die Menschen ein, brachte sie dazu, Partei zu ergreifen, im Laufe eines Prozesses, bei dem noch nicht alle Fakten auf dem Tisch lagen. Erst solidarisierte man sich mit der einen Partei, dann plötzlich mit der anderen. Den Hass und die Hetze, die vorher verbreitet wurden, scheinbar vergessen.

Tragischer Ausgang

Auf der einen Seite finde ich es gut, wenn wichtige Themen besprochen und durch Medien Aufmerksamkeit bekommen. Auf der anderen erschreckt es mich, wie schnell Menschen ein Urteil fällen und sogar Hass und Hetze ausleben, obwohl noch nicht alle Beweise gesichtet und besprochen wurden. Können wir bitte dazu übergehen Fakten zu checken, auch mal sagen zu können, dass wir uns nicht in der Lage sehen ein Urteil zu fällen ohne weitere Informationen, und nicht mit Hass, Hetze und Selbstjustiz in so einen Prozess zu springen? Ja, ich will auch nicht, dass jemand die Hauptrolle in einem Kinofilm bekommt, der häusliche Gewalt ausgeübt hat. Wo Opfern so oft nicht geglaubt wird, ist es gut, dass so ein Vorwurf ernst genommen wird. Aber was, wenn das gar nicht so war?

Ich möchte hier kein Fass aufmachen. Bitte behaltet im Hinterkopf, dass vielen Opfern von häuslicher Gewalt oft nicht geglaubt wird und der Ausgang dieses Gerichtsprozesses leider nicht dazu beigetragen hat, dass es in Zukunft leichter wird. Ich wollte den Fall an dieser Stelle allerdings als Beispiel dafür anbringen, wie wir uns von Medien manipulieren und zu schnellen Urteilen bringen lassen.

Die J.K. Rowling-Frage: Kann man das Werk von der Autorin trennen?

Schenkt man der Zeitung Glauben, stellt sich die Frage: Will man das Buch einer Person lesen, die Gelder veruntreut und gelogen hat? Will man diesen Menschen wirklich finanziell damit in die Kassen spielen?

Dazu fällt mir ein weiterer Fall aus der Buchbranche ein: J.K. Rowling, die Autorin von Harry Potter. Rowling erntete in den letzten Jahren aufgrund ihrer transfeindlichen Äußerungen und Aktivitäten immer wieder starke Kritik und Aufrufe zum Boykott. Ich selbst bin mit Harry Potter groß geworden und mir haben die Bücher damals meine Kindheit und Jugend erleichtert. Bei einer Stadtführung im Jahre 2018 in Edinburgh wurde nochmal hervorgehoben, wie stark sich Rowling für Frauen einsetzt, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Für mich war sie ein Vorbild, doch mit ihrem immer kontroverser werdenden Diskurs, verlor sie meine Sympathie und verdarb mir den Spaß am Harry Potter Universum.

In dieser Diskussion wird immer wieder die Frage laut, ob man Autoren von ihren Werken getrennt betrachten sollte. Ich finde die Frage schwer zu beantworten und bin auf deine Meinung gespannt. Ich selbst versuche abzuschätzen, ob ich durch Kauf von Merchandise und Vorstellen der Bücher der betroffenen Autorin, ihr mehr Munition liefere, die sie gegen die Menschen einsetzt, die ich schützen möchte. In Rowlings Fall habe ich leider den Eindruck gewonnen, dass sie ihre Bekanntheit und ihren Reichtum in einem Weg missbraucht, der mir missfällt, weshalb ich keine Potter-Produkte mehr kaufe und auch die Filme nicht mehr streame. Dieser Verzicht tut weh und ich bin wütend, dass die Autorin sich von einem Vorbild in eine Antagonistin verwandelt hat. Noch viel wütender sind allerdings die Menschen, die ihre Rechte abgesprochen bekommen, die sie sich über Jahrzehnte mühsam erkämpft haben.

„Ich kann doch nicht jeden boykottieren!“

In vielen anderen Fällen bekomme ich oft gar nicht mit, ob jemand problematisch ist, weil die Berichterstattungen nicht immer zu mir durchdringen. Zu Sarah J. Maas, Cassandra Clare und Rebecca Ross habe ich reißerische Überschriften gesehen, mich ein wenig in das Thema eingelesen, aber konnte, ähnlich wie bei der Autorin von Der Salzpfad, kein Urteil bilden.

Am liebsten kaufe und lese ich inzwischen Bücher von Autorinnen und Autoren, die ich persönlich kenne. Gut, als Autorin ist das jetzt nicht allzu schwierig, immerhin haben wir allein in unserem Verlag mehr Bücher als ich lesen kann. Falls du da Empfehlungen brauchst, melde dich.
Trotzdem lese ich auch manchmal Hype-Bücher oder Übersetzungen und interessiere mich nicht unbedingt für die Person dahinter. Zumindest, bis ich mitbekomme, dass sie, unter anderem durch meine Unterstützung, Dinge tut, die ich nicht unterstützen möchte. Dann kann ich noch immer gebraucht kaufen, damit der Person kein neues Geld zufließt und heize den Verkauf des Buches durch Vorstellung auf meinen Kanälen nicht weiter an.

Ob das die beste Lösung ist? Keine Ahnung. Wie handhabst du das?

Wie echt muss eine Geschichte sein?

Gehen wir jetzt mal davon aus, dass Raynor Winn beim Verlust ihres Hauses nicht ganz das Opfer war, als das sie sich dargestellt hat. Und gehen wir mal davon aus, dass sie wirklich Gelder veruntreut hat und unter anderem deswegen hoch verschuldet war. Nimmt das der Geschichte aus Der Salzpfad ihren Kern? Die Notlage der beiden und die Heilsamkeit der Wanderung sind noch immer wahr.

Müssen Geschichten immer wahr sein? Ich finde, es kommt drauf an. Ich selbst habe ein Buch über meine Wanderung auf dem West Highland Way geschrieben. Bewusst kein Autobiografisches, denn meine Wanderung lief zu glatt ab. Nichts ging schief, ich hatte bestes Wetter und eine unglaublich tolle Zeit. Ein langweiliger Plot für einen Roman. Deshalb schrieb ich die fiktive Geschichte von Emilia, die nach ihrer Rheuma-Diagnose nach Schottland aufbricht, um diese zu verarbeiten. Nach dem Unfall ihrer besten Freundin, zieht sie allein weiter. Sie kämpft mit Wetterkapriolen, Unerfahrenheit, den Symptomen ihrer Krankheit, Hoffnungslosigkeit und der Angst vor Ablehnung. Ein Roman, der zu 80 % auf realen Ereignissen basiert, aber dennoch fiktiv ist, damit es spannend bleibt.

Ja, die Frau mit der Überdosis gab es wirklich und auch das Gebüsch voller Zecken. Allerdings sind beide Dinge nicht mir passiert, sondern einer Ärztin, die ich auf der Wanderung kennengelernt habe. Ja, da war wirklich eine alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter im Grundschulalter und auch ein achtzigjähriger Mann beim Wandern. Er ist mir begegnet, die Mutter mit der Tochter lief an dem Tag im Ziel ein, als ich startete. Doch ihre Geschichte wurde unter uns Wandernden weitergetragen.

Der große Unterschied zwischen Der Salzpfad und meinem West Highland Love ist allerdings, dass ich mein Buch nicht als autobiografisch bewerbe – und unter anderem deshalb vermutlich weniger Erfolg habe.

Liest du lieber Geschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhen, oder fiktionale?

Wo kann ich den Film Der Salzpfad gucken?

Der Film Der Salzpfad zum gleichnamigen Buch erschien am 17.07.205 und läuft aktuell im Kino. Noch ist nicht bekannt, wann und wo er im Streaming verfügbar sein wird. Auf Prime* kann er für den 31.10.2025 vorbestellt werden.

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Falls du bei all den tragischen Schicksalen jetzt denkst, dass Fernwandern nur bei Trauerbewältigung und lebensverändernden Diagnosen hilft: Man kann das auch einfach so aus Spaß machen, wenn es einem gut geht.
Und wenn du denkst, dass ich diesen Beitrag nur geschrieben habe, um mein eigenes Buch zu verkaufen: Ja, das ist richtig. Ich liebe meine Geschichte und möchte, dass sie viele Menschen erreicht und außerdem möchte ich irgendwie auch meine Miete bezahlen können 😉

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